Eine Familie mit 3 Kindern - ein Kinderspiel.

Kategorie: Krebs ist ein A…loch

Jahrestag der etwas anderen Art

Normalerweise feiert man Jahrestage. Man erinnert sich gerne an die besonderen Ereignisse, die an diesem Tag stattgefunden haben, schwelgt in Erinnerungen, stößt vielleicht an.

Und dann gibt es diese Tage, die auch Jahrestage sind, die aber nicht unbedingt gefeiert werden wollen.

Vor einem Jahr ist uns der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Seitdem steht für uns kein Stein mehr auf dem anderen. Meine Sicht auf die Welt hat sich geändert; Mein Urvertrauen, dass alles gut wird, hat einen mächtigen Knacks bekommen.

Als wir letztes Jahr mit dem Maimädchen auf dem Weg ins Krankenhaus waren und der Herzensmann mich fragte, ob ich mir Gedanken machen würde oder ein komisches Gefühl hätte, sagte ich ihm: „Ach, das wird schon nichts Schlimmes sein.“ Ich bin tatsächlich einfach davon ausgegangen, dass alles ok ist und habe nicht einen Gedanken daran verschwendet, dass irgendetwas nicht stimmen könnte.
Selbst im Krankenhaus, als die Ärztin in der Notaufnahme (mit der wir hinterher viel Kontakt hatten, da sie auf der onkologischen Station arbeitete) nach vielem Abfragen ohne Ergebnis einfließen ließ, dass es sich eventuell um etwas Bösartiges handeln könnte, war ich fest davon überzeugt, dass das nicht sein kann. Ich habe diese Möglichkeit einfach nicht in Betracht gezogen. Mein Bauchgefühl sagte etwas völlig anderes.

Seitdem vertraue ich meinem Bauchgefühl nicht mehr wirklich…

Denn seitdem hat sich unser Leben grundlegend geändert…

Dieser erste Jahrestag ist fast unbemerkt an uns vorbeigezogen, so leise hat er sich verhalten. Und doch ist er allgegenwärtig.
Gestern hat das Maimädchen ihre vorletzte Chemo bekommen. Seitdem sie nur noch alle vier Wochen Chemo bekommt, haut die Therapie sie gefühlt noch stärker um. Der Freitag Nachmittag war noch ok, sie hat im Auto auf dem Weg nach Hause geschlafen und war dadurch ganz gut drauf. Heute Morgen dann kam die große Spuckerei. So schlimm wie heute war es noch nie. Ihr ging es so schlecht, dass wir bis heute Mittag im Bett geblieben sind und sie zwischendurch nochmal tief und fest eingeschlafen ist. Das Mittel gegen Übelkeit will sie nicht, das kommt sofort im hohen Bogen wieder raus.
Im Laufe des Tages wurde es dann aber langsam besser und sowohl das verspätete Mittagessen, als auch das Abendessen haben wir bis jetzt nicht wiedergesehen.
Durch die unvorhergesehene Kuscheleinheit heute morgen war mein Wochenend-Einkaufs-Plan dann auch hinfällig und so bin ich nur heute Nachmittag nochmal schnell los, um das Nötigste für das Wochenende zu holen und die wichtigsten Vorräte aufzufüllen.
Die Kinder haben gespielt. Alle drei.
Und nun ist dieser Tag, der uns letztes Jahr so zugesetzt hat auch schon fast vorbei.

Ein neuer Alltag hat sich eingeschlichen. Ein Alltag, der bestimmt war durch Besuche im Krankenhaus, Chemotherapien, regelmäßige Ultraschalluntersuchungen, Angst und Unsicherheit.

Genauso wird sich hoffentlich bald ein neuer Alltag einschleichen, der aus regelmäßigen Kindergartenbesuchen und frei geplanten Aktivitäten besteht.
Und auch, wenn hin und wieder eine Ultraschalluntersuchung ansteht, wir werden die Steine um uns herum sammeln und unsere Welt wieder aufbauen und ich arbeite daran, mein Urvertrauen zurück zu bekommen.

Schlaflos

Es ist vier Uhr.
Seit zwei Stunden liege ich wach und kann nicht wieder einschlafen. Nachdem die letzte Woche mal wieder von einem sehr unregelmäßigen Schlafrhythmus geprägt war, bekam ich gestern Abend prompt Migräne. Unser Papa war gestern den ganzen Tag unterwegs und am Nachmittag kam die Herzensfreundin mit Kindern und Kuchen vorbei, sodass uns der Tag nicht zu lang wurde. Spontan kam dann auch noch der Nachbar rüber. Seine Frau hat es nicht geschafft. Das hat uns so sehr getroffen, damit hatten wir alle nicht gerechnet. Jetzt lernt er gerade nach über fünfzig Jahren sein Leben wieder allein zu meistern. Er macht das so toll!
Und als dann der Besuch heute Abend ging, kam direkt mit dem Schließen der Haustür die Migräne. Schon komisch manchmal. Ich bin dann um neun ins Bett und so liege ich nun hier und finde den Schlaf nicht wieder. Stattdessen viel zu viele Gedanken.

10. September.
Ein halbes Jahr leben wir nun mit Herrn Wilms. Leben wir noch mit ihm oder haben wir ihn schon raus geschmissen? Eigentlich ist er im Mai ausgezogen, doch gefühlt wohnt er doch noch immer hier. Wirft seine Schatten über unsere Familie.
Vor drei Wochen haben wir erfahren, dass die Pathologen sich endlich geeinigt haben. Postoperatives Stadium 1. Das Beste, was passieren kann! Unser Maimädchen braucht keine Bestrahlung. Die Erleichterung ist groß.
Und trotzdem fällt es mir schwer, mich völlig auf diese Freude einzulassen. Die Chemotherapie zieht sich noch das komplette nächste Jahr hin. Zu groß ist die Gefahr, dass eventuell vorhandene Nephroblastomatoseherde den falschen Weg einschlagen. Entarten. Zu Krebszellen werden.
Wir haben auch das OK für den Kindergarten bekommen. Anfang nächsten Jahres ändert sich die Dosierung der Chemotherapie. Es gibt nur noch alle vier Wochen eine Dosis. Unter diesen Umständen ist es möglich, dass das Maimädchen den Kindergarten besuchen darf. Doch auch hier schwingt Unsicherheit mit. Kann ich es verantworten, mein Kind dort hin zu geben, wo es täglich so vielen Erregern ausgesetzt ist? Was passiert, wenn sie Fieber bekommt? Wenn sie sich wirklich an irgendetwas ansteckt, mit dem ihr kleiner geschwächter Körper nicht so einfach klar kommt?
Kann ich es im  Gegenzug dazu verantworten, sie weiter zu Hause „einzusperren“? Auf die vielen Sozialkontakte zu verzichten? Sie freut sich so sehr, wenn sie mit anderen Kindern spielt.
Wir kommen hier kaum raus. Jeder Gang nach draußen fordert Abwägungen. Kann ich sie heute mit zum Einkaufen nehmen? Sie liebt es, mit mir im Auto zum Einkaufen zu fahren, mir zu helfen, den Einkaufswagen zu packen, die Waren aufs Band zu stellen. Und doch birgt das die Gefahr, sich an irgendwas anzustecken. Wildfremde Menschen, die meinen, sie anfassen zu müssen, obwohl sie einen Mundschutz trägt. Menschen, die neben einem niesen, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Dazu Blicke, Kommentare. „Och, ist die Kleine erkältet?“, „Na, was hat die Kleine denn?“ Und es sind nicht die Menschen, die uns kennen und die gerade irritiert sind, weil sie uns so sehen. Ich gebe jedem, der fragt, so gut es geht eine ehrliche Antwort. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, nicht für die Anderen, aber eben auch nicht für mich. Oft habe ich gar keine Wahl, ich kann sie ja schlecht allein zu Hause lassen.
Dann sind da die Dinge, die man einfach gerne mit Kindern tun würde, eben weil es so schöne Erlebnisse für die Kinder, für die ganze Familie, sind. Schwimmen gehen, Turnen, in die Bücherei, in den Streichelzoo, auf Kinderveranstaltungen, einfach mal raus. All das ist zur Zeit nicht möglich oder aber eben nur sehr begrenzt. Ein geplanter gemeinsamer Familienausflug kann dann auch ganz schnell mal scheitern, eben weil zum Beispiel das Wetter nicht mitspielt und die Gefahr einfach zu groß ist, dass sich irgendwer was einfängt. Wir leben hier gerade mit wenig Reserve und was passiert, wenn jetzt noch einer von uns „ausfällt“, daran mag ich gar nicht denken.
Und dann sind da noch die Nächte. Jede Nacht hat das Maimädchen Albträume. Sie schreit, weint, tobt teilweise durchs Bett und hat große Mühe, wieder einzuschlafen. In den Ferien sind wir morgens einfach länger liegen geblieben. Jetzt klingelt der Wecker. Die Tage sind anstrengend.
Trotzdem fühlt es sich mittlerweile gerade tagsüber etwas besser an. Es ist nicht mehr so schwierig, den ganzen Vormittag mit dem Maimädchen und dem Vollmondbaby allein zu sein. Vor den Ferien war das fast unmöglich, weil das Maimädchen fast nur geweint hat, wenn ich nicht mit meiner vollen Aufmerksamkeit bei ihr war. Jetzt bekommen wir einen Vormittag ganz gut rum. Zum Einen haben sicherlich die Ferien geholfen. Wir hatten Zeit, uns einfach in Ruhe miteinander zu beschäftigen und uns wieder aneinander zu gewöhnen. Zum Anderen hat sich mittlerweile ein fester Pool an Helfern eingefunden, die regelmäßig vorbei kommen und uns unterstützen. So weiß ich, dass ich die Hausarbeit notfalls auch einfach einen Tag später machen kann, weil dann auf jeden Fall jemand da ist, der sich um die Kinder kümmert. Ein schönes, erleichterndes Gefühl.
Ich bin so froh darüber, dass uns die Bestrahlung erspart bleibt. Dass dieser arme kleine Körper nicht noch mehr wegstecken muss. Dass wir tatsächlich hoffen dürfen, dass nach dem nächsten Jahr dieser ganze Spuk vorbei ist.
Doch wie schaffen wir es bis dahin? Wie überstehen wir die Zeit? Woher nehme ich die Kraft, so weiter zu machen, wie bisher? Neben mir liegt das Maimädchen und hat einen unruhigen Schlaf. Das Vollmondbaby liegt auf der anderen Seite, schläft, stillt, schläft. Und oben liegt die Große, die mit ihren sechs Jahren all das noch gar nicht richtig begreifen kann.
Wenn dieser kleine zarte Körper, diese starke Seele neben mir die Kraft hat, das hier durchzustehen, dann schaffe ich das auch. Dann habe ich alle Kraft der Welt, um für mein Maimädchen, für meine Kinder, da zu sein!

Es ist 6:14 Uhr.
Ich versuche mal, noch ein wenig Schlaf zu bekommen.

Sommerferien!

Der letzte Schultag vor den Sommerferien. Welches Schulkind freut sich nicht darauf? Jaja, der ein oder andere Lehrer natürlich auch 😉

Und schon ist das erste Jahr Grundschule vorbei. Die Zeit rennt. Im Moment schneller, als je zuvor.

Nun liegen sechs Wochen freie Zeit vor uns. Zeit, um ein wenig zur Ruhe zu kommen, vielleicht ein wenig Kraft aufzutanken. Nicht jeden Tag funktionieren zu müssen, sondern Dinge auch mal langsam angehen zu lassen. Es drängt uns ja nichts. Kein Wecker, kein Schulbus. Nur jeden Freitag die Termine in der Tagesklinik.
Unser Papa hat noch einiges aufzuarbeiten. Er war insgesamt fast zwei Monate mit unserem Maimädchen im Krankenhaus. Das macht sich auf dem Schreibtisch bemerkbar.

Letzten Mittwoch hatte ich ein Gespräch mit der Stationspsychologin. Das Erste nach über vier Monaten nach der Diagnosestellung. Lange dachte ich, ich bräuchte so etwas nicht, doch die letzten zwei Wochen haben mir gezeigt, dass es bitter nötig ist, mir weitere Hilfe zu holen. Zu sehr hat uns Herr Wilms aus unserem bisherigen Leben gerückt. Alle Grundpfeiler, auf denen das Leben bisher stand sind ins Wanken geraten und ich hatte das Gefühl, dem Ganzen nicht mehr gewachsen zu sein. Durch das Gespräch ist einiges klarer geworden. Ich nehme Hilfen dankbar an. Ohne geht es nicht, dafür ist unser Weg zu schwer und zu weit.

Sechs Wochen Sommerferien liegen vor uns. Zeit, die wir gemeinsam intensiv als Familie genießen wollen. Zeit, die ich brauche, um meine Akkus wieder zu füllen. Zeit, um schöne Momente zu erleben.

Wir haben schon eine kleine Auflistung gemacht, mit schönen Dingen, die unbedingt erledigt werden sollten. Da wird bestimmt noch einiges dazu kommen. Ich freue mich darauf!

 

Abschiedsbrief an den Häuptling

Lieber Häuptling,

vor 20 Jahren haben wir mit dem Indianerstamm unseren Abschied von der Schule gefeiert. Vor ein paar Wochen hatten wir das Nachtreffen unseres Abi-Jahrgangs und ich erfuhr hinterher, dass Sie nicht dabei sein konnten, da auch sie gerade dabei sind, sich gegen einen dieser verdammten Krieger zu wehren. Unser Krieger heißt Herr Wilms, wie Sie Ihren genannt haben, weiß ich nicht. Wir stecken noch mitten drin, doch Sie haben ihren Kampf gestern verloren.

Lieber Häuptling, auch wenn ich persönlich nicht mehr die Möglichkeit dazu habe, möchte ich mich bei Ihnen bedanken.
Viele Lehrer sind prägend für das weitere Leben ihrer Schüler. So auch Sie. In der neunten Klasse wurden Sie unser Mathelehrer. Mit Mathelehrern hatte ich wohl immer Glück. Nie bekam ich das Gefühl vermittelt, dass Mädchen zu dumm für Mathe sind. Ich hatte immer meine Freude daran, auch wenn ich vielleicht nicht die beste Schülerin war. Den Mathe-Leistungskurs habe ich damals nur gewählt, weil Sie der LK-Lehrer waren. Weil ich wusste, wenn Sie etwas erklären, verstehe ich das.
In der Oberstufe wurden Sie unser Jahrgangsstufenleiter. Da Sie noch recht jung waren, waren wir Ihr erster Abi-Jahrgang. Ich finde, Sie haben das damals toll gemeistert. Es herrschte ein tolles Klima in der Jahrgangsstufe. Das merkt man auch jetzt noch.
Als ich heute Morgen die Nachricht über Ihren verlorenen Kampf in unserer Abi-Gruppe las, war ich tief betroffen. Immer wieder kommen neue Kommentare dazu. Wir denken an Sie.
Es gibt so viele Erinnerungen an die Schulzeit. Erinnerungen, die ich natürlich auch mit Ihnen in Verbindung bringe.
Zum Beispiel daran, wie wir Sie in der Nacht zu Ihrem Geburtstag besucht haben und Sie mit einem Ständchen überrascht haben. Wir wurden herein gebeten und es gab eine spontane kleine Sit-in-Party.
Diverse Stufen- oder Kursfahrten, bei denen Sie natürlich als Aufsichtsperson dabei waren, aber doch auch immer mit gefeiert haben.
Auf dem Abiball haben Sie morgens mit uns auf den Tischen getanzt.
Vielen Dank, dass Sie dazu beigetragen haben, unsere Schulzeit mit so schönen Erinnerungen zu füllen.

Ich habe gehört, dass Sie nach unserer Schulzeit geheiratet haben und Kinder bekommen haben. Meine Gedanken sind bei Ihren Kindern und bei Ihrer Frau. Ich möchte ihnen einen Teil meiner Kraft schicken, die ich hier von so vielen lieben Menschen in meiner Umgebung täglich bekomme.

Lieber Häuptling, danke für’s da gewesen sein! Sie haben geholfen, viele Menschen zu dem zu machen, was sie jetzt sind!

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